Sonntag, 25. Oktober 2015

Stimmen 2

"Er ist fort."
"Wer ?"
"Er."
"Aha. Wohin ist er gegangen ?"
"Wer ?"
"Ja er."
"Aha."
Der Prophet reibt sich das Kinn, tastet sich seinen Hals ab, fühlt den Puls. Er beobachtet das Gespräch am frühen Morgen. Er ist aufgewacht und er war weg. Der Prophet wundert sich, die Sonne erhellt das Zimmer, es sind nichtmehr die Blitze, die Licht spenden müssen, und anstatt von Regen an der Scheibe und Donner hört man fast nichts, man hört nur leichte Windbrisen außerhalb der Hütte. "Ihr vermisst ihn", stellt der Prophet fest.
"Wen ?"
"Ihn."
"Aha."
Stille kehrt ein in der Hütte, niemand sagt etwas, außerhalb der Hütte weht immernoch der Wind. Der Alte liegt in seinem Bett, schweigend, und der Verrückte starrt das Dach von unten an, ebenfalls schweigend, und der Prophet beobachtet nur mit blassen Augen, denen jeder Glanz fehlt, und mit einem leeren Gesichtsausdruck, und er beobachtet schweigend.
Während der Alte noch im Bett liegt, unter der Decke, gerade eben erst aufgewacht, fängt er an zu zittern. "Mir ist kalt", zerbricht er die Stille. "Er ist weg", erwidert der Verrückte.
"Wer ?", fragt der Alte, sichtlich verwirrt.
"Er."
"Der Wanderer", klärt der Prophet auf : " Er ist nicht fort gegangen. Er ist weiter gezogen."
"Das macht keinen Unterschied. Es klingt nur netter."
"Hat er die Stimmen mitgenommen ?", fragt der Alte, seine Stimme bebt vor Hoffnung, oder sie bebt, weil er zittert und ihm hinter blauen Lippen die Zähne klappern.
"Ich fürchte dein Fieber kehrt wieder.", sagt der Prophet. Seine Stimme ist von Mitleid erfüllt, ganz im Gegensatz zu seinem vorwurfsvollem Gesichtsausdruck. Der Verrückte wirft die Decke von sich, steht auf, geht ans Fenster und schaut hinaus.
Der Alte sucht die Scheibe nach den Tropfen des Regens der letzten Nacht ab. "Hat er die Stimmen mitgenommen ?"
"Wer ?"
"Er." "Der Wanderer ?"
"Ja."
Ungeduld kocht im Verrückten hoch. Ihm rutscht die Hand aus, er schlägt gegen die Scheibe, sie zerbricht und Scherben fliegen durch den Raum. Scherben zerschneiden seine Hand, sodass diese innerhalb von Sekunden rot angemalt aussieht. Scherben fliegen auch bis ins Bett und auf den Tisch. "Leg dich wieder schlafen, alter Mann. Sofort !", befiehlt der Verrückte, "oder soll ich dich mit dem Messer schlafen legen ?". Seine blutige Hand zeigt Richtung Tisch und tropft dabei den ganzen Boden voll.
"Vergiss das rostige Messer. Ich kann ja auch noch die Stimme des Propheten hören.", mit leisen und kleinen Schritten schleicht der Alte wieder zum Bett zurück, legt sich hinein, auf die weiche Matratze und die vielen Scherben, die ihm nun in den Rücken schneiden.
"Die vielen Wunden helfen dir nicht das Fieber zu überstehen", sagt ihm der Prophet : "ich wünsche dir eine gute Besserung."
Wieder reißt dem Verrückten der Geduldfaden, so ein Gerede will er sich nicht anhören müssen, und unter Schmerzen schreit er dem Propheten entgegen : "Raus ! Raus mit dir Prophet ! Ich will dich hier nicht mehr sehen müssen, raus !"
Man hört den Alten noch etwas ergänzend flüstern, während er sich mit der blutigen Hand die Decke über dem Körper sieht, "Und nimm die Stimmen mit dir.", dann schließt er die Augen und versucht zu schlafen.

Samstag, 17. Oktober 2015

Oh armer, alter Mann - Teil 3

Ich sah ihn nicht von weitem, den armen alten Mann, auch sein Pferd sah ich nicht von weitem. Ich sah ihn von ganz nah, den armen alten Mann, und sein Pferd stand neben mir, neben mir und nicht bei ihm, oh armer alter Mann. Von oben schaue ich auf ihn hinab, wie friedlich er dort liegt, der arme alte Mann. Die Augen geschlossen und ein Lächeln im Gesicht, so liegt er in seinem Grab, das ich für den alten Mann ausgehoben habe. Ich sagte ihm ja, er wird sterben, und ich wusste er wird sterben, und trotzdem liefen mir Tränen über mein Gesicht als ich ihn hinunter ließ, in die Erde hinein, sodass der Teufel in der Tiefe seine Seele zu sich nehmen konnte. Und sein Pferd stand neben mir, die ganze Zeit, und schaute hinab ins Grab zum armen alten Mann und schaute mich an, als ich das Grab zu schaufelte, und lief mir nach, als ich ging.
Und so nahm ich mich eines weiteren Pferdes an, wieder war es ein Pferd des alten Manns. Ich stellte das Pferd in den Stall des toten Pferdes und ließ es dort leben, wo das tote Pferd seinen letzten Atemzug genommen hatte. Dort, wo das tote Pferd krank war, während der alte Mann reiste.
Das Pferd lebte dort, ich kümmerte und sorgte mich um das Pferd. Immer wieder dachte ich an den alten Mann, wie ich ihn das erste Mal sah, was das Erste war, was ich ihm sagte und was wir zusammen taten. Ich dachte an den armen alten Mann, wenn ich das Pferd fütterte, und ich dachte an den alten Mann, als sowohl das Pferd als auch ich älter wurden. Und eines Tages dachte ich an das, was ich ihm als Erstes sagte und erinnerte mich dann an das, was er mir erzählte. 
Es gäbe so viel zu sehen und er habe zu wenig gesehen, und ihn zog es in die Welt, und am liebsten würde er fliegen. Doch er könne nicht fliegen.
Und ich dachte nach, ich habe ebenfalls zu wenig gesehen, dabei gibt es so viel zu sehen. Oh armer alter Mann, du hast mich an das Pferd gefesselt, das ich hier angefesselt habe. So schnitt ich das Pferd los um die Welt zu sehen, ich konnte ebenfalls nicht fliegen. Das Pferd war gesattelt, alt und schwach wie es schon war, und dann ritten wir dem Ende der Welt zu, weg vom Sonnenaufgang, dahin strebend wo der Horizont die Abendsonne verschlingt.
Und fern von zuhaus, eines morgens mit der Sonne im Rücken, sah ich ihn, den jungen Mann. Und als ich ihm näher kam und ich ihn genauer sah, wusste ich, dass er mir etwas zu sagen hat. Oh armer alter Mann, ich weiß, was er mir sagen wird. Er kommt und sagt mir "Alter Mann, dein Pferd wird sterben."

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Ritt des toten Pferds - Teil 2

Ich sah ihn schon von weitem, den armen alten Mann auf seinem Boot. Und er legte dort mit seinem Boot an, wo ich ihn erst vor zwei Tagen ablegen gesehen habe. Er sagte zu mir die Haie haben sein Pferd, doch ich sagte ihm, dem armen alten Mann, es gäbe so viel zu sehen und er habe auch jetzt nicht genug gesehen und fragte ihn ob er denn mittlerweile fliegen kann. Da sagte der arme Mann Nein, könne er nicht und die Seele seines Pferdes würde beim Teufel in der Tiefe ruhen. Ein letztes Mal musste ich ihm widersprechen, er hat sein totes Pferd noch bei sich um damit die Welt zu erkunden, und ich sah in seinem Gesicht, dass er mich nicht verstand. Ich sagte ihm nichtsmehr, dem armen alten Mann, ich ließ ihn rätseln, als wir zusammen am Feuer saßen. Ihm fiel die Antwort nicht ein, noch immer wusste er nicht, was ich meinte. Und als er erkannte, dass ich ihm da auch nicht helfen könne und er dachte weder fliegen zu können noch ein Pferd zu haben, hörte er auf zu rätseln und legte sich schlafen. Und während er schlief, der arme alte Mann, Schlaf brauchte er dringend, krank wie er war, da ließ ich ihm am Feuer liegen und ging zurück zu meiner Hütte. Als ich in der Hütte nicht fand was ich suchte, suchte ich im Stall weiter, wo ich fand was ich suchte. Und dann kehrte ich mit einem Eimer Farbe zum alten Mann zurück, er schlief noch. Und dann ging ich weiter zu seinem Boot und schrieb den Namen des Bootes an die Wand. Dann ging ich wieder zurück zum alten Mann, immernoch schlief er noch. Und ich hob ihn hoch, den armen alten Mann, und trug ihn auf sein totes Pferd. Dann machte ich die Segel los, sodass es fliegen konnte, sein totes Pferd. Und der arme alte Mann schlief, als sein totes Pferd über die Wellen in den Sonnenaufgang ritt.
Ich bin dann wieder meiner Alltagsarbeit nachgegangen, tagelang, und habe mich gefragt was wohl aus dem armen alten Mann geworden sei. Auch nach Monaten noch dachte ich täglich an den alten Mann, als ich mich Neuigkeiten erreichten. Neuigkeiten von einem armen alten Mann, der alleine auf einem kleinen Boot die Welt erkunden wird. Ich erfuhr wo er war und ihn welche Richtung er derzeit segelte. So ließ ich all meine Alltagsarbeit liegen und ging zu der Stelle, wo wir am Feuer beisammen saßen. Und am Horizont konnte ich es schon sehen, ich sah die Segel des toten Pferds. Ich entzündete ein Feuer und wartete auf ihn. Und als er dann angelegt hatte und zu mir kam, da sah ich ihn schon weitem, den armen alten Mann auf seinem Pferd, einem jungen Pferd. Und er sah schlimm aus, krank und matt, schlimmer als ich ihn in Erinnerung hatte. Doch sein Pferd sah gut aus, jung und frisch, er muss es sich neu gekauft haben. Und dann sagte ich zu ihm "Alter Mann, du wirst sterben."

Montag, 12. Oktober 2015

Der Moment der Explosion

Sie hat heute frei gemacht, obwohl sie momentan nicht einmal mehr ungern in die Schule geht. Vielleicht war das Wochenende ein wenig zu anstrengend, aber trotzdem schön, und einen Tag konnte man sich ja mal leisten. 
Sie beschließt, diesen zu nutzen, um das Bad sauber zu machen, die Küche und vielleicht auch ihr Zimmer. Während sie sich als allererstes dem Bad zuwendet, überlegt sie, was sie heute sonst noch alles tun kann, ist gut gelaunt, obwohl es ihr am gestrigen Abend noch so schlecht ging. Die Putzaktion dauert länger als erwartet. Mehr als zwei Stunden bemüht sie sich, die sanitären Einrichtungen in ihrem Elternhaus zu säubern, vielleicht kann sie damit ihrer gestressten Mutter eine Freude machen. 
Doch diese kommt schneller zurück als erwartet, das Bad ist zwar fertig, nur alles andere eben nicht. Und noch dazu ist die gerade von der Arbeit Kommende gestresst, sie wird kaum Pausen heute haben und sich auch noch mit der pubertierenden kleinen Schwester und Mathe herumschlagen müssen. Natürlich verdeutlicht sie all dies der großen Schwester, ohne sich überhaupt Mühe zu geben, nicht genervt zu klingen. Außerdem sähe alles so schrecklich unordentlich aus. Natürlich weiß sie nicht, dass ihre Tochter gerade eben noch das Bad geputzt hat. Beide sind genervt und die Tochter kennt das von ihrer Mutter. Sie kennt diese Seite von ihr, die jeden Moment ausbrechen kann, wegen nur einer Kleinigkeit passiert. In der Luft kann man die angespannte Stimmung förmlich greifen. Aber sie nimmt keine Rücksicht darauf. Sie selbst ist gereizt durch die so schnell getrübte gute Laune und keift zurück. Der Moment der Explosion.
"ICH KLATSCH' DIR GLEICH EINE, WENN DU WEITER SO FRECH BIST!"
Das Schreien der Mutter hallt laut durch die Küche und wie ein Echo durch den Kopf ihrer eigenen Tochter. Diese guckt sie verdutzt an, vielleicht nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann geht sie einen Schritt auf ihre Mutter zu und entschärft die Situation, obwohl das wahrscheinlich nicht einmal ihre Absicht ist.
"Dann mach doch, schlag mich einfach! SCHLAG MICH!", ist ihre Antwort und wahrscheinlich steckt so viel Ehrlichkeit in ihr, dass die Mutter sich zurücknimmt. Sie widersteht dem Drang, den sie noch vor ein paar Sekunden hatte und lässt die Hand sinken. Obwohl sie diesem schon einmal freien Lauf gelassen hat, wobei die jüngere der beiden Schwestern daran glauben musste.
Der Moment zieht vorbei, während beide sich einfach nur stumm in die Augen blicken und tief in ihrem inneren wissen, was in dem Kopf des anderen gerade vorgehen muss.


Montag, 5. Oktober 2015

Das tote Pferd - Teil 1

Ich sah ihn schon von weitem, den alten Mann auf seinem alten Gaul. Und so wie er mir näher kam und ich ihn genauer sah, wusste ich, dass es ihm nicht gut ging, und seinem Pferd auch nicht. Und ich sagte dem alten Mann, "Alter Mann, dein Pferd wird sterben.", und wusste nicht, dass er mir daraufhin seine Lebensgeschichte erzählen würde. Er sagte, es gäbe so viel zu sehen und er habe zu wenig gesehen, und jetzt zieht es ihn in die Welt, und am liebsten würde er fliegen. Doch er könne nicht fliegen, und so habe er sich das Pferd gekauft. Es wäre aber nur ein Pferd, ohne Flügel. Und da bot ich dem alten Mann an, dass ich mich um sein Pferd kümmere und es reite, wenn es nicht stirbt. Und so zog der arme alte Mann alleine weiter.
Das Pferd starb, es ist so tot wie ein Nagel in der Wand, und es wird nicht wieder kommen und ich werde mich nichtmehr drum kümmern und sorgen müssen und der alte Mann, der arme alte Mann, wird es nie wieder reiten.
Und der alte Mann kam zu mir, ich habe es ihm ja gesagt, sein Pferd ist tot. Wir nahmen ihm, dem Pferd, sein Haar, doch nur um Segel zu nähen und Segel zu flicken. Und wir nahmen ihm die Hufeisen und formen Nägel daraus. Und Stück für Stück bauten wir, der arme alte Mann und ich, ein Boot.
So nahm der arme alte Mann das tote Pferd und fuhr damit raus aufs Meer. Ich habe dem Alten ja gesagt, dass sein Pferd sterben wird, und doch liefen ihm Tränen über sein Gesicht, als er es an einem langen Seil in das Meer hinab ließ, sodass die Haie seinen Körper und der Teufel in der Tiefe seine Seele zu sich nehmen.