Sonntag, 7. Juni 2015

Die Farben eines Blinden

Die Augen eines Blinden sind grau. Oder schwarz. Oder weiß.
Zu diesem Schluss kam Aaron. Aber nicht weil es unbedingt so sein müsste, sondern weil es für ihn einen Sinn ergab. Er selbst war blind, schon immer gewesen. Woher also sollte er es besser wissen ?
Er hatte die Augen eines Blinden ja noch nie gesehen.
Es ist aber auch nicht so als hätte er es noch nie versucht. Wie viele Stunden hat er vor einem Spiegel gebracht, in der Gewissheit, dass er sich darin spiegelt, dass er sich sehen könnte, hätte er Augenlicht, dass er ziemlich dämlich aussieht, wie er so regungslos vor dem Spiegel steht.
Egal wie lange er dort stand, nie hat er sich gesehen. Nun, er hat aber auch nie große Enttäuschung verspürt, schließlich konnte er wohl auch kaum erwarten was zu sehen.
Sehen. Wie oft er sich gewünscht hat sehen zu können, wie oft sein Leben verflucht hat, weil er es nicht kann. Sehen wurde ihm zu einer anderen Sache. Er sieht nicht wie andere bewegte Bilder des Alltags. Nein, Aaron sieht das Licht auf seiner Haut, wenn er die Wärme spürt. Er sieht das Wasser, wenn es um ihn herum Wellen schlägt. Er sieht die Luft, wenn seine Haare im Wind wehen.
Das ist es, was die Blindheit mit ihm macht : er sieht nichts entferntes, er sieht nur das, was ihn betrifft. Vielleicht ist er deswegen ein Egoist geworden. Vielleicht hat er deswegen die Einsamkeit gesucht.
Nur seine eigenen Probleme kennend hat er immer gesagt : "Als Blinder anderen Menschen zu vertrauen, ist wie sich mit einem Hammer das Knie zu zertrümmern : nur weil du es tun könntest, heißt es nicht, dass du es auch tun solltest, denn am Ende bleibst du eh nur behindert zurück."
Deswegen hat er auch nie jemand anderen gefragt welche Augenfarbe ein Blinder hat, er hat nie gefragt welche Augenfarbe er selbst hat. Das ist im Grunde eh das selbe.
Die Augen eines Blinden waren also grau. Oder weiß. Oder schwarz.
Aber warum eigentlich ? Aaron weiß was ein Blinder sieht. Nun Aaron sieht natürlich alles was ihn betrifft, nur halt nicht mit den Augen. Aber was sieht ein Blinder mit den Augen ? Aaron sieht eine schwarze Wand. Dauerhaft.
Vielleicht ist es auch eine graue Wand, oder eine weiße. Aber wäre es weiß, dann ist es nicht so hell, dass es ihn blendet. Vielleicht ist es auch rot, oder blau. Alles zusammen ist es nicht, er ist sicher, dass er Unterschiede erkennen könnte. Um zu sich selbst ehrlich zu sein, weiß er selbst nicht was er sieht. Er weiß, dass er denkt irgendwas zu sehen, weil er weiß, dass er eigentlich etwas sehen sollte, aber eben das sieht er ja nicht. Er weiß auch nicht wie er das, was er sieht, nennen soll, denn er weiß nicht wie es die Sehenden nennen.
Aaron hat sich einfach darauf festgelegt, dass er keine Farben sehen kann, daher kann es nur grau, schwarz oder weiß sein.
Der Wind, den er spürt, die Wellen, die er spürt, die Wärme, die er spürt, sie alle haben keine Farben.
Also müssen die Augen eines Blinden einfach grau sein. Oder weiß. Oder schwarz.
Und wieder verflucht Aaron sein Leben aufgrund seiner Blindheit.

3 Kommentare:

  1. Super schöne Geschichte! Bringt echt zum Nachdenken :/

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  2. Gänsehaut! Mal wieder unglaublich gut geschrieben.

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  3. Gedankengänge sind da, um ihnen zu folgen. Das geht zwar nicht immer, aber hier harmonieren die Sinne so schön miteinander, ich könnte heulen.

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